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Nudelsuppentag

Jetzt nur noch kurz in die Apotheke, Pflegeprodukte besorgen und ein exklusives Entspannungsbad, dann konnte das Wochenende beginnen. Eigentlich hatte Caren für dieses erste Adventswochenende ein paar Wellnesstage mit ihrer Freundin geplant. Aber jetzt war Sabine kurzfristig etwas dazwischen gekommen und allein hatte sie auch keine Lust, nach Berchtesgaden zu fahren. Also gemütliche Stunden daheim mit Bad, Gesichtsmaske, Kerzenschein und Wohlfühl-CD, morgen einen ausgiebigen Spaziergang im Englischen Garten, anschließend eine kleinen Shoppingtour und was ihr sonst noch so einfiel, um es sich einmal so richtig gut gehen zu lassen. Die letzten Wochen waren jobtechnisch recht turbulent, ja stressig gewesen. Das war eben der Preis des Erfolgs. Aber jetzt hatte sie sich wahrhaftig etwas Entspannung verdient.

Beim Verlassen der Apotheke wäre sie beinahe mit einem Kind zusammengestoßen. Die Kleine mochte vielleicht acht sein, stand unmittelbar vor dem Eingang und schluchzte verzweifelt. War die nicht auch schon da gewesen, als Caren das Geschäft betreten hatte? Ja, sie meinte sich zu erinnern. Sie hatte in dem Moment zwar nicht auf das Kind geachtet, aber ja, doch, jetzt erinnerte sie sich, das Mädchen vor der Apotheke gesehen zu haben. Scheinbar unschlüssig war die Kleine davor auf und ab gegangen. Das war vor zehn oder zwanzig Minuten gewesen, Caren hatte noch etwas mit der Inhaberin geplaudert, mit der sie gut bekannt war. Caren machte sich nichts aus Kindern. Aber wie das Mädchen so dastand, so offenkundig tief verzweifelt, wie nur Kinder das sein können, hatte sie doch Skrupel, einfach weiter zu gehen — zumal es schon dunkelte und bei dieser Kälte auch nur noch wenige Passanten unterwegs waren.

„Was ist denn los?“

Statt einer Antwort bekam sie nur noch heftigeres Schluchzen zu hören. Gleichzeitig streckte ihr das Kind einen zerknüllten Einkaufszettel entgegen. Paracetamol, Erkältungssalbe, Hustensaft las sie. Ganz offensichtlich sollte das Kind die Medikamente besorgen.

„Warum gehst du denn nicht rein und kaufst die Sachen?“

Die Antwort kam stammelnd, von Schluchzern unterbrochen und kaum verständlich: „I..., i..., ich hab das Geld verloren.“

Kinder. Caren musste fast schmunzeln. Lächerliche Kleinigkeiten konnten in ihren Augen manchmal Katastrophen ungeahnten Ausmaßes bedeuten.

„Na, so schlimm wird das doch nicht sein. Dann gehst du eben heim und lässt dir von deiner Mama noch mal Geld geben. Die wird dir schon nicht gleich den Kopf abreißen.“

Kopfschütteln. Schluchzen.

„Das geht nicht. Mama hat extra gesagt, ich muss gut aufpassen. Das sind die letzten 50 Euro. Und jetzt sind sie weg! Und Mama ist doch richtig krank. Die braucht was gegen das Fieber.“

Da hatte sie sich ja in eine schöne Situation hinein manövriert! Anstatt zu Hause in ihrer gemütlichen Wohnung zu sitzen, stand sie jetzt bei diesem verheulten Kind, dem der Rotz aus der Nase lief, und wusste nicht, wie sie sich davon stehlen sollte, ohne sich anschließend wie ein herzloser Unmensch zu fühlen. Hätte sie doch bloß nicht gefragt! Dieses Gör ging sie überhaupt nichts an und seine erkältete Mutter noch weniger. Aber jetzt weggehen ging auch nicht. Sie überlegte. Mehr als 20 Euro konnten die paar Medikamente kaum kosten. Sie selbst hatte gerade für fast 200 Euro Kosmetika gekauft und war dafür als gute Stammkundin recht großzügig für ihre Treue beschenkt worden. Das stimmte sie hilfsbereit.

„Also gut. Hör auf zu weinen und pass auf. Ich gehe jetzt rein und kaufe die Sachen. Das mit dem Geld regeln wir dann später.“

Als Caren wieder herauskam, hatte sich das Mädchen tatsächlich beruhigt. „Danke“, sagte es strahlend.

Kinder sind wie Aprilwetter, ging es Caren durch den Kopf, im einen Moment noch zu Tode betrübt und kurz darauf himmelhoch jauchzend. Keine Frage, für die Kleine war Caren die Heldin des Tages, die Retterin in allergrößter Not, der Engel, den ihr der Himmel geschickt hatte.

„Wohnst du weit von hier?“

„Nein, nicht weit. Vielleicht fünf Minuten.“

„Gut. Dann begleite ich dich.“

Sie würde mit den Eltern reden und erklären, dass sie das Geld freundlicherweise ausgelegt hatte. Womöglich würde ihre Gegenwart auch die Standpauke für das Kind etwas geringer ausfallen lassen. Nicht, dass es einen Tadel nicht verdient hätte — aber ein bisschen waren die Eltern auch selbst schuld an dem, was passiert war. Was für ein Leichtsinn, diesem schusseligen Wesen einen so hohen Betrag anzuvertrauen, wenn das Geld ohnehin schon knapp war. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Leider jedoch in die entgegengesetzte Richtung von Carens Wohnung. Nachdem sie zwei Straßen überquert hatten, wurden die Häuser einfacher. Die Apotheke lag ganz offensichtlich an einer Art unsichtbarer Demarkationslinie. Zwei Stadtviertel trafen hier aufeinander. In der einen Richtung lag das gutbürgerliche, in dem Caren wohnte, in der anderen das wesentlich unattraktivere. Dort war also die Kleine mit ihrer Familie zu Hause. Caren war so gut wie noch nie dort gewesen. Wozu auch? Eine Gentrifizierung, wie sie an so vielen Stellen der Stadt bereits stattgefunden hatte, war dort noch nicht erfolgt.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, das Kind zu begleiten, schoss es Caren plötzlich durch den Kopf. Wozu der ganze Aufwand, wozu sich für diese vergleichsweise lächerliche Summe einer womöglich peinlichen oder zumindest unangenehmen Situation aussetzen? Aber jetzt war es zu spät. Die Kleine hatte sie schon ganz mit Beschlag belegt, hopste neben ihr her und plapperte unaufhörlich. Bei der Entfernungsangabe zu ihrer Wohnung hatte sie sich offensichtlich getäuscht. Es dauerte gute zehn Minuten, bis sie endlich am Ziel angekommen waren. Endlich nahm das Mädchen einen Schlüssel heraus und sperrte die Tür eines älteren Mehrfamilienhauses auf.

„Also gut, ich habe dich jetzt heimgebracht. Ich glaube, mit hinein brauche ich dich nicht mehr begleiten. Du erzählst deinen Eltern einfach, was passiert ist und dass ich dir die Medikamente gekauft habe.“

Aber davon wollte die Kleine nichts wissen. Sie nahm Caren einfach wortlos bei der Hand und zerrte sie ins Haus hinein. Aufzug gab es keinen.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Caren, als sie die Treppen hochstiegen.

„Jana. Und ich wohne allein mit meiner Mama.“

Sie war offenbar schon erwartet worden. Die Frau war eindeutig Janas Mutter, die Ähnlichkeit zwischen den beiden war unverkennbar. Wie alt mochte sie sein? Caren schätze sie um mindestens zehn Jahre jünger als sich selbst. Trotzdem wirkte die Frau deutlich verbrauchter, wie sie fand. Lag das nur an ihrer Erkältung? Es war jedenfalls klar, dass sie dringend ins Bett gehörte.

„Kind, wo warst du denn? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du hast das Geld vergessen! Hier, es liegt noch auf dem Tisch. Und wer sind …“

Weiter kam sie nicht, denn Jana sprudelte nun ihrerseits alles hervor, was sie erlebt hatte. Wie sie geglaubt hatte, das Geld verloren zu haben, wie ihr dann schließlich die nette Frau geholfen habe … Caren stand während dieses Wortschwalls nur stumm und unbehaglich daneben. Verstohlen ließ sie ihre Blicke schweifen. Die Wohnung wirkte ärmlich, war aber immerhin sauber. Caren hatte schon Schlimmes befürchtet. Was wusste sie denn? Janas Mutter hätte auch eine betrunkene, verwahrloste, zugekiffte Asoziale sein können. Aber so wirkte die frau hier nicht. Nur krank und auch irgendwie abgearbeitet, erschöpft. Trotzdem: Was hatte Caren in dieser fremden Wohnung zu suchen? Sie wollte so schnell wie möglich weg. Auf dem schon arg mitgenommenen, schmalen Tisch prangte neben dem vergessenen 50 Euro-Schein eine armselige Adventsdeko. Eine einzige Kerze, drapiert mit ein wenig billigem Weihnachtsflitter, wie man ihn in jeden Supermarkt für wenige Cent zu kaufen bekam. Endlich hatte Jana ihren ausführlichen, wenn auch ein wenig verworrenen Bericht beendet. Ihre Mutter bedankte sich herzlich. Ihre Stimme war allerdings kaum mehr als ein Krächzen. Ja, keine Frage, die Frau gehörte dringend ins Bett.

Nudelsuppentag schoss es Caren plötzlich durch den Kopf. Nudelsuppentag, so hatte ihre Mutter die Tage bezeichnet, an denen Caren oder ihre Schwester krank waren oder an denen sich sonst ein kleines Unglück ereignet hatte. Immer gab es dann eine kräftige Nudelsuppe — bei besonders heftigem Kummer noch zusätzlich mit einem verrührten Ei darin — und was auch immer gewesen war, hinterher sah die Welt zumindest ein wenig freundlicher aus. Ja, eine kräftige Nudelsuppe war in der heilen Welt ihrer Kindheit das Trostpflaster für manches kleine Missgeschick gewesen. Die ganze Aufregung hier wäre für Carens Mutter auf alle Fälle Anlass genug gewesen, ihre tröstende Suppe zu kochen.

Auch diese beiden, die kranke Frau und ihre Tochter, konnten wahrhaftig eine warme Suppe vertragen. Caren wollte Jana schon vorschlagen, sie solle eine zubereiten. Aber dann zögerte sie. War die Kleine schon alt genug, dass man sie mit kochendem Wasser hantieren lassen konnte? Sie hatte keine Ahnung, was Kinder in dem Alter konnten oder auch nicht konnten. Zu ihrer eigenen, grenzenlosen Verwunderung fragte sie nun: „Soll ich für dich und deine Mama eine Suppe kochen, Jana? Das würde euch beiden gut tun.“

Janas Mutter wiegelte bereits ab, das sei sehr freundlich, aber nein, das könne man auf keinen Fall annehmen, Caren habe sich ja schon so viel Mühe gemacht. Doch die Kleine war von dem Vorschlag begeistert und führte sie bereits in die Küche. Suppenpulver war da, auch ein paar Nudeln, die man zur Not nehmen konnte. Auch wenn es nicht die guten Suppennudeln waren, wie sie Caren aus ihrer Kindheit kannte. Eier gab es allerdings keine. Jana musste gespürt haben, wie wenig zufrieden Caren mit der Gesamtausstattung an Lebensmitteln war.

„Mamas Gehalt kommt erst nächste Woche“, führte sie wie selbstverständlich aus, „da müssen wir diese Woche ein bisschen sparen.“

Sparen. Ihr müsst lernen zu sparen, das hatte ihr Vater früher immer zu ihr und ihrer Schwester gesagt. Allerdings war es da niemals um etwas so Selbstverständliches wie Nahrungsmittel gegangen. Sparen, das Taschengeld sparen musste man, um sich ein paar Wochen später dann einen Wunsch erfüllen zu können — etwa eine Barbie-Puppe. Da hieß es dann abwägen, ob man sich diese Woche ein Comic-Heft kaufte oder eben das Geld für die größere Anschaffung zurücklegte. So wie es ihre Eltern regelmäßig beispielsweise für die Anschaffung eines eines neuen Autos, eines zusätzlichen Fernsehgaräts oder einer Stereoanlage taten. Das war bis heute Carens Vorstellung von Sparen: Geld zurücklegen für Dinge, die man sich absehbar gönnen wollte. Plötzlich schämte sie sich dafür. Sie schämte sich, dass ihr dieses Kind mit einer Abgeklärheit, die so gar nicht seinem Alter entsprach, erläuterte, was Sparen auch, ja eigentlich, bedeuteten konnte.

In die Suppe mussten unbedingt Eier, fand Caren nun. Sie wollte Jana schon losschicken, da schien es ihr plötzlich, als sei die Winterjacke der Kleinen doch recht dünn gewesen. Sie hatte auf dem Herweg nicht weiter darauf geachtet. Aber ja, wenn sie jetzt so darüber nachdachte, sah sie die Kleine in einem windigen Jäckchen vor sich, wie sie da neben ihr auf der Straße her hüpfte. Ohnehin war es schon dunkel. Da mochte sie das Kind doch nicht mehr losschicken. Lieber würde sie kurz selber gehen. Einen Supermarkt hatte sie auf dem Herweg ganz in der Nähe gesehen. Sie würde Eier kaufen und die richtigen Suppennudeln. Und ein paar Mandarinen, Orangen und Nüsse konnten auch nicht schaden.

© by Elisabeth Schinagl 2018

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