Diese Geschichte verdanke ich einer lieben jungen Bekannten. Gemeinsam mit ihrer Freundin besuchte sie den Grashof des Kreuzgangs im Würzburger Neustift, das sogenannte Lusamgärtlein, ein kleines, romantisch abgeschirmtes Geviert, das von den Einheimischen zärtlich das Liebesgärtlein genannt wird. Man hatte den beiden Studentinnen erzählt, dass unglücklich Liebende dorthin kommen und Blumen auf einen Stein legen; sobald die Blumen verwelkt sind, soll dann auch der Liebeskummer verschwunden sein. Deshalb findet man an dieser Stelle auch jahraus, jahrein frische Blumen. Ein Mittel gegen Liebeskummer kann man ja immer brauchen, ganz besonders, wenn man jung ist. So also hatten sich die beiden zu einem Besuch an diesem nützlichen Ort entschlossen.
Als sie dort sind, erklärt gerade ein Fremdenführer einer Gruppe von Touristen die Sache mit den Blumen, die das ganze Jahr hindurch auf dem Stein liegen. Aber er deutet das Phänomen völlig anders! Nach seinen Ausführungen ist der besagte Stein die Gedenkstelle an irgendeinen mittelalterlichen Dichter, von dem die beiden jungen Frauen noch nie gehört haben: Walther von der Vogelweide.
Hier im Kreuzgang des Neumünsters soll er einer mittelalterlichen Quelle zufolge begraben sein, und die immer frischen Blumen dokumentieren laut Fremdenführer seine nach wie vor ungebrochene Aktualität gerade auch bei jungen Leuten. Die beiden Studentinnen platzen fast vor Lachen, als sie diese Theorie hören. Der Stein als Erinnerung an diesen angeblich bekannten Schreiberling? Das kann nicht sein!
Wer hat nun recht?
Ich glaube beide – und sehr wahrscheinlich aus einem einzigen Grund: Walther von der Vogelweide war der mittelalterliche Minnedichter schlechthin. Die Minne, also die Liebe, in ihren vielen Variationen und Spielarten war gewissermaßen sein Spezialgebiet. In immer neuen Variationen besingt er Liebesfreud und Liebesleid, Emotionen und sinnliches Vergnügen. Die Verehrung der vornehmen, adeligen frouwe, also der Dame, ist ebenso sein Thema wie die Liebe zur einfachen Frau aus dem Volk, dem wip. Sein Markenzeichen aber, das, was ihn in diesem Genre einzigartig und berühmt macht, ist der neue Blickwinkel auf das Phänomen Liebe. Walther lässt erstmals die zu Wort kommen, die bislang nur Objekt der Begierde, aber nie Handelnde war: die Frau. Damit schlägt er neue, geradezu revolutionäre Töne an. Mag die Sprache dem heutigen Leser auch fremd sein und der Inhalt sich nicht beim ersten, flüchtigen Lesen erschließen - umso vertrauter und die Jahrhunderte überspannend ist das, was in diesen Versen beschrieben wird.
Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.
Ich kam gegangen
zuo der ouwe:
dô was mîn friedel komen ê.
dâ wart ich empfangen
hêre frouwe
daz ich bin sælic iemer mê.
kust er mich? wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der munt.
Dô hete er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
des wirt noch gelachetv
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
bî den rôsen er wol mac
tandaradei,
merken wâ mirz houbet lac.
Daz er bî mir læge,
wesse ez iemen
(nu enwelle got!), so schamte ich mich.
wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz wan er und ich
und ein kleinez vogellîn:
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.
Ein armer Tropf, wer noch nie etwas Ähnliches erlebt hat!
Eine Frau genießt selbstbewusst und ohne Reue die Freuden der Liebe. Sie schert sich nicht um Klerus, Kirche, Konventionen. Das ist neu, das ist revolutionär, vielleicht sogar skandalös.
Wo hat Walther dieses Lied wohl vorgetragen? Was empfanden seine Zuhörer und, noch viel interessanter, seine Zuhörerinnen? Was war das für ein Mensch, der diese Zeilen dichtete? Woher kam er? Wie lebte er? Wie stand es um sein eigenes Liebeserleben?
Das Mittelalter kannte den Personenkult, wie wir ihn heute pflegen, nicht, und so ist uns wie bei allen Dichtern der Zeit auch Walthers Biographie nur lückenhaft bekannt. Wahrscheinlich wurde er irgendwo um 1170 im heutigen Österreich geboren; gestorben dürfte er um 1230 sein. Als fahrender Sänger hatte er wechselnde Engagements an verschiedenen Adelshöfen. Lange hält er sich am Wiener Hof des Herzogs Friedrich I. auf. Er engagiert sich mit politischer Dichtung für Philipp von Schwaben und gegen dessen Rivalen Otto, nach Philipps Tod dann schlägt er sich auf die Seite Ottos.
Aus den Äußerungen in seinem Werk kann man Bindungen an wichtige Persönlichkeiten seiner Zeit erkennen. Walther verkehrt mit den Mächtigen, er ist anerkannt, gewissermaßen ein Star. Und doch ist er immer abhängig von Gunst und Gnade seines adligen Publikums. Es ist ein unstetes, sicherlich anstrengendes Leben. Endlich, nach langen Jahren, bekommt er ein kleines Lehen, das ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit und damit ein sorgenfreies Alter garantiert.
Die Liebe war nicht das einzige Thema, das ihn als Dichter beschäftigte. Walther, die Nachtigall, der Leitstern und Vorbild für viele Kollegen, ist in der berühmten Manessischen Liederhandschrift auf einem Stein in Denkerpose sitzend abgebildet. Ihn quält das Spannungsverhältnis zwischen äußeren Ansprüchen, denen es gerecht zu werden gilt, und seinen eigentlichen Bedürfnissen. Wie soll man leben in dieser Welt politischer Intrigen und Machtkämpfe und ihrer ewigen Jagd nach Ansehen und Vermögen? Wie hier Seelenfrieden erlangen?
Die Zeiten, die Wertvorstellungen haben sich gewandelt. Die Problemlagen stellen sich für den modernen Menschen in vielen Dingen anders dar. Kein Wunder, dass der heutige Leser bei Walthers politischer und religiöser Dichtung umfassende Erklärungen zum Verständnis benötigt. Die wenigsten Zeitgenossen interessieren sich für die politischen Querelen um 1200.
Anders verhält es sich mit der Liebeslyrik.
Saget mir ieman, waz ist minne?
weiz ich des ein teil, sô west ich es gerne mê.
der sich baz denne ich versinne,
der berihte mich, durch waz sie tuot sô wê.
Minne ist minne, tuot sie wol;
tuot sie wê, sô heizet sie niht rehte minne.
sus enweiz ich, wie sie denne heizen sol.
Ja, was ist das, die Liebe? Warum tut sie oft so weh?
Die Antworten darauf kennen wir heute so wenig wie um das Jahr 1200, als Walther diese Verse schrieb; und darum bleiben sie wohl auch aktuell. Und weil die Liebe so ist, wie sie ist, ungeachtet aller Konventionen und gesellschaftlichen Erwartungen an sie, so schön und oft auch so schmerzlich, werden auf Walthers Gedenkstein in Würzburg auch weiterhin Blumen liegen, und der Fremdenführer darf sich auch weiterhin zu Recht über die ungebrochene Beliebtheit des mittelalterlichen Dichters freuen.
© by Elisabeth Schinagl 2019
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