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Die Unsichtbare

Bedenke, dass du sterblich bist, mahnte in vergangen Zeiten ein Einflüsterer, wenn ein siegreicher Feldherr in purpurner Toga, bestickter Tunika und mit Lorbeer geschmückt sich für seine militärischen Erfolge mit einem Triumphzug feiern ließ. Auf dem Gipfel seines Ruhms sollte der Sieger so an die Wankelmütigkeit des Schicksals erinnert werden, das ihn trotz allem immer noch treffen und niederstrecken konnte. Längst war dieser altrömische Brauch schon in Vergessenheit geraten. Sonst hätte er Theoderich vielleicht schon früher daran erinnert, dass auch er nur ein Sterblicher war und sowohl sein eigenes Schicksal wie auch das seiner Familie von Rückschlägen bedroht sein könnte.

Jahrzehntelang aber war er nahezu ausschließlich Erfolge gewohnt gewesen. Umso heftiger traf ihn dann der unerwartete Tod seines Schwiegersohns und intendierten Nachfolgers Eutharich. Alles war ja perfekt vorbereitet gewesen. Eutharich hatte die politischen Auffassungen seines Schwiegervaters geteilt. Er hätte dessen romfreundliche Politik als erfahrener Soldat und gläubiger Arianer fortgesetzt und später, wenn es an der Zeit gewesen wäre, seinerseits die Macht an seinen Sohn Athalarich, Theoderichs Enkel, übergeben. Das war Theoderichs Plan gewesen. Plötzlich aber war mit einem Schlag alles anders. Ich sehe Theoderich noch vor mir, als er uns mit versteinerter Miene den Tod seines Schwiegersohns bekannt gab. Wie ging es nun mit dem Reich weiter, wer würde der künftige Herrscher? Die Frage stand spürbar im Raum, lastend, drängend. Schließlich war auch Theoderich bereits an die siebzig und damit nicht mehr der Jüngste. Doch niemand wagte es, sie laut zu stellen. Als wahrscheinlichster, ja im Grunde einzig möglicher Nachfolger galt lange Zeit Theoderichs Neffe Theodahad, der Sohn seiner Schwester.

Außergewöhnliche Umstände erfordern bisweilen außergewöhnliche Maßnahmen und Theoderich wäre nicht Theoderich gewesen, wenn er nicht in entscheidenden Situationen auch immer den Mut zu solchen gehabt hätte. Die Frage seiner Nachfolge ließ er lange ungeklärt. Erst spät, als er erkannte, dass sein Ende unmittelbar bevor stand, bemühte er sich um die Regelung dieser für uns alle existenziellen Angelegenheit. Er berief eine Versammlung hochrangiger Goten und vornehmer Römer ein und verpflichtete sie in einem Treueid auf seinen unmündigen Enkel Athalarich. Doch war es zu diesem späten Zeitpunkt nicht mehr möglich, auch die Anerkennung Justins aus Konstantinopel einzuholen. Faktisch fiel damit nun Athalarichs Mutter Amalasuntha die Aufgabe zu, die Regentschaft im Namen ihres Kindes zu übernehmen. Für uns Römer war die Herrschaft einer Frau nicht gänzlich ungewohnt. Schließlich hatte auch Galla Placidia jahrelang als Vormund für ihren unmündigen Sohn erfolgreich geherrscht. Der alte Palast, die Kirchen und Statuen — Ravenna war immer noch voll mit den Erinnerungen an ihre Regentschaft. Für die Goten dagegen widersprach eine Frau auf dem Thron, selbst wenn sie nur als Stellvertreterin ihres unmündigen Sohnes für einen klar definierten Zeitraum agieren sollte, vollkommen der Tradition. In ihren Augen hatte ein Herrscher auch immer ein Krieger und Führer seiner Soldaten im Kampf zu sein. Das schloss eine Frau von vornherein aus. Einige von ihnen akzeptierten deshalb diese in ihren Augen mehr als ungewöhnliche Regelung nur zähneknirschend und weit unwilliger als wir Römer.

Hier zögere ich weiterzuschreiben. Ich fürchte, es gelingt mir nicht wirklich, die tief greifende Zäsur zu beschreiben, die mit Theoderichs Tod eingetreten war, ja, eintreten musste. 28 Jahre hatte Theoderich als offizieller Herrscher gewirkt, in Wahrheit sogar noch einige Jahre länger. Er hatte dem Reich weitestgehende Stabilität und Frieden geschenkt. Welchem Nachfolger wäre es da nicht schwergefallen, dieses große Erbe gebührend zu bewahren? Für Amala als Frau galt das natürlich doppelt. Mindestens bis zu Eutharichs Tod hatte nie jemand damit gerechnet, dass sie einmal die Regierungsgeschäfte übernehmen müsste. Am allerwenigsten wohl Theoderich selbst. Es hätte weder in sein Weltbild noch in sein Selbstverständnis gepasst. Die einzige Rolle, die er seiner Tochter bis dahin zugedacht hatte, bestand darin, einen männlichen Erben und Thronfolger zu gebären und damit zugleich eine festes Band zwischen den beiden gotischen Stämmen im Westen und im Osten zu knüpfen. Mit 15 Jahren hatte er sie verheiratet und sie hatte ihre Pflicht erfüllt. Eutharichs Tod hatte alles verändert. Bis heute bin ich mir über die Motivation, die Theoderichs Handeln damals bestimmte, unklar. Hoffte er in einer Art von Hybris, er werde lange genug leben, um die Macht dann in die Hände seines erwachsenen Enkels zu legen, oder schob er seine Entscheidung bezüglich der Thronfolge einfach so lange hinaus, dass es angesichts der Lage der Dinge schließlich niemandem mehr möglich war, eine Frau auf dem Thron de facto zu verhindern? Hoffte er also, seine Goten würden Amalas Herrschaft notgedrungen akzeptieren? Was auch immer seine Motive gewesen sein mögen — sein Vorgehen war äußerst riskant. Auch ein Theoderich war schließlich nicht vor einem plötzlichen Tod gefeit. Aber wie ich schon sagte, er wäre nicht Theoderich gewesen, wenn er nicht immer auch den Mut gehabt hätte, ein Risiko einzugehen.

Offen gesagt hatte ich Amala bis dahin kaum wahrgenommen. Wie auch? Es gab nur sehr wenige offizielle Anlässe, bei denen ich gleichzeitig mit Theoderichs Tochter anwesend war. Sie war eine Frau, mehr als zehn Jahre jünger als ich und hatte bei politischen Unterredungen nichts verloren. Ihre Aufgabe war die Mutterschaft.

Nun, nach Theoderichs Tod stellte nicht nur ich mir die bange Frage, wie es weitergehen sollte. Würde Konstantinopel ein Kind auf dem weströmischen Thron akzeptieren? Wie würden sich die Senatoren verhalten? Die Zahl derer, die mit Konstantinopel sympathisierten, war nach Theoderichs Tod sicher nicht kleiner geworden. Und schließlich waren da noch die Goten selbst. Würde der unmündige Athalarich ein Band sein, das über die Jahre stark genug war, den Führungsanspruch der Amaler aufrecht zu erhalten und die Einheit zwischen Ost- und Westgoten zu garantieren? Er und seine Schwester waren die lebenden Ergebnisse von Theoderichs Bündnispolitik. In ihrem Blut vereinigten sich die edelsten Geschlechter der verschiedenen Stämme.

Amala war eine wunderbare Person. Diese Bemerkung erlaube ich mir hier. Während ihrer Regierungszeit hätte mich eine derartige Aussage nicht nur mein Amt, sondern womöglich sogar mein Leben kosten können. Als Regentin war sie gezwungen, alle Hinweise auf ihre Weiblichkeit so weit wie nur irgend möglich zu unterdrücken. Sie war gewissermaßen zur Geschlechtslosigkeit verdammt. Ihr Vater Theoderich hatte neben seiner Ehefrau immer wieder verschiedene Konkubinen gehabt und mit ihnen auch mehrere Kinder gezeugt. Das war allgemein bekannt und auch Theoderich selbst hatte nie ein Hehl daraus gemacht. Sein Verhalten mochte aus moralischer Sicht verwerflich sein, eine Staatsaffäre war es nicht. Auch mit der Verheiratung seiner illegitimen Töchter sicherte er seine Dynastie und seine Vormachtstellung nach außen. Amalas Situation war auch in dieser Hinsicht ganz anders und weit schwieriger. Sie war noch jung genug, um möglicherweise Kinder zu bekommen. Das aber hätte das ohnehin fragile Machtgefüge mit einem Schlag ins Wanken bringen können. Auf Amalas enthaltsame Lebensweise durfte deshalb nicht einmal der Schatten eines Verdachts fallen. Niemals war sie mit einem Mann — nicht einmal mit mir — allein.

Eine Königin, die keine Königin, eine Frau, die keine Frau sein durfte. Amala wandelte auf einem schmalen Grat. Aber sie schaffte es. War sie froh, der Bürde der Ehe durch ihre Witwenschaft entronnen zu sein oder vermisste sie ihren Mann? Sehnte sie sich bisweilen nach einer zärtlichen Umarmung? Ich gebe zu, dass mich diese Gedanken umtrieben. Eine Antwort darauf habe ich allerdings nie erhalten. In dieser Frage war ihr Verhalten für mich unergründlich. Sie präsentierte sich nicht nur mir gegenüber ausschließlich als Regentin: Zu jedermann freundlich, wenn es die Verhältnisse gestatteten, aber stets unnahbar. Weit stärker als ihr Vater war sie mit unserer, der römischen, Kultur verbunden. Theoderich hatte sie äußerst sorgfältig ausbilden lassen. Sie liebte die Literatur und die Künste. Die militärisch geprägte Welt der Goten aber widerstrebte ihr. Das lag meiner Meinung nach nicht ausschließlich darin begründet, dass sie eine Frau war. Es widersprach vielmehr zutiefst ihrem Charakter. Amala setzte weit stärker auf die Macht des Wortes und der Verhandlung als auf die Macht des Schwertes. Das verband uns beide, trieb aber gleichzeitig auch einen starken Keil zwischen sie und die gotischen Edlen.

Aus: Elisabeth Schinagl, Die geheime Akte des Cassiodor