Einer der für mich bedeutendsten Sätze aus der antiken Philosophie stammt von Heraklit und lautet panta rhei, alles fließt. Ein Satz, der das ewige Schweben allen Seins zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr beschreibt. Das gilt nicht nur für unsere individuelle, flüchtige Existenz, für unser persönliches Werden und Wachsen: Wie Wasser quillt, sprudelt, schwillt, tost, mündet, versickert, manchmal versiegt oder sich unsichtbar seinen Weg bahnt, um an anderer, unvermuteter Stelle wieder zu Tage zu treten, so auch unser kulturelles Erbe, das Wissen und Denken von Generationen, das unsere eigene Identität bestimmt.
Mit meiner Freundin mache ich mich an einem schönen Sommertag auf die Suche nach einem Mosaiksteinchen dieses Phänomens und damit gleichzeitig zum Ursprungsort, zur Quelle dieser Geschichte.
Der Weg führt uns von Eichstätt, bezeichnenderweise einen gemächlich fließenden Fluss entlang, durch das Altmühltal auf den Hahnenkamm, nach Heidenheim. Imposant erhebt sich hier ein beachtliches Münster, eigentlich viel zu groß für den kleinen Ort. Ruhig ist es hier, Heidenheim liegt abseits der Touristenströme, Besucher kommen nur wenige. Von dem ursprünglichen, frühmittelalterlichen Kloster und der dazugehörigen einstigen Kirche finden sich keine Spuren mehr, nur noch im Heidenbrünnlein sprudelt unter alten Bäumen das Wasser so wie um das Jahr 750, als hier ein neuer, die Zeiten und die Gegend prägender Strom an Wissen gespeist wurde.
Nach Jahrhunderten, die uns in ihrer buchstäblichen Sprachlosigkeit kaum fassbar sind, nach dem Zusammenbruch des spätantiken christlichen Imperiums, nach Völkerwanderungen, Zerstörung und Desaster beginnt zaghaft eine neue geistige Quelle hervor zu sprudeln: Mönche und Nonnen aus Britannien christianisieren die Gegend. Sie bringen das Wenige, was an kultureller Bildung und Schriftsprache die Wirren der vergangenen Jahrhunderte überstanden hat, wieder zurück auf den alten Kontinent. Und hier auf dem Hahnenkamm entsteht eine der Keimzellen der neuen klösterlichen Kultur. Zwei Lebensbeschreibungen dieser Missionare, die mit und neben dem neuen Glauben so vieles an Wissen brachten, sind uns überliefert: Die eine über Wunibald, den Klostergründer, die andere über seinen bekannteren Bruder Willibald, Gründer des Bistums Eichstätt. Der Schreiber hat die verlässlichste Quelle überhaupt für seinen Bericht: Willibald höchstpersönlich diktierte ihm hier im Kloster Heidenheim in die Feder.
Der lateinische Text der vita Willibaldi besteht aus solch rauen, ungefügen Formulierungen, dass jeder Übersetzer unwillkürlich versucht ist, ihn zu glätten, um ihn unserem modernen ästhetischen Empfinden zumindest anzunähern. Ohne eine Spur von Wundertätigkeit zeigt er einen mühsamen Neubeginn aus den Trümmern einer untergegangenen Kultur. Dieser Neubeginn spiegelt sich auch in der Holprigkeit der Sprache, in ihrer mangelnden Eleganz wider. Zusammengefasst, geradezu kondensiert, wird das Leben eines außerordentlichen Mannes beschrieben. Freilich: Der Schreibstoff 'Pergament' ist überaus kostbar, Lämmer, Kälber oder Zicklein müssen dafür so jung geschlachtet werden, dass sie noch nicht wirklich als Fleischlieferanten dienen können, denn nur dann ist ihre Haut zart genug. So gilt es, sich auf das Wichtigste zu beschränken, für ausschweifende Schilderungen ist da kein Platz.
Es geht um das Wesentliche. Und dieses Wesentliche besteht im Falle Willibalds zunächst in einer mehrere Jahre währenden Reise zu den sichtbaren Zeugnissen göttlicher Wahrheit. Das ist keine Vergnügungs- oder Bildungsreise, wie sie der eine oder andere moderne Zeitgenosse kennt. Nein, diese Reise mitsamt den damit verbundenen Strapazen und Gefahren ist eine Form von Gottesdienst. Sie bedeutet, die vertraute Welt zu verlassen und sich ohne Rückversicherung auf Fremdes einzulassen. Es geht darum, Mühen und Entbehrungen auf sich zu nehmen, um mit eigenen Augen die Stätten göttlichen Wirkens zu sehen, mit den eigenen Füßen heiligen Boden zu betreten, um so im wortwörtlichen Sinn Christus nachzufolgen, sich mit eigenen Sinnen von der Wahrheit der Evangelien zu überzeugen, gewissermaßen Augenzeuge einer übernatürlichen Wahrheit zu werden. Es gilt Kirchen und Klöster aufzusuchen, lebendige Beweise für die Wirksamkeit des christlichen Glaubens, es gilt, aus dieser wahren Quelle zu schöpfen. Nur an manchen Stellen blitzt daneben auch faszinierend Wundersames aus einer fremden Welt auf.
Der Weg führt Willibald und seine Gefährten, darunter auch sein Vater, von Wessex über Frankreich nach Italien, vom Festland nach Sizilien, wo in der Stadt Catania die Reliquien der heiligen Agathe aufbewahrt werden.
Und dort ist der Berg Ätna, und wenn dieser aus irgendwelchen Gründen ausbricht, so dass das Feuer droht, sich über jene Gegend auszubreiten, dann nehmen die Bewohner schnell den Leib der heiligen Jungfrau Agathe und halten ihn gegen das Feuer und es kommt zum Stehen.
Die Reise führt weiter nach Ephesus, der Wirkungsstätte der Siebenschläfer und darauf nach Jerusalem und das Heilige Land, zu den Quellen des Jordan. Gilt die Aufmerksamkeit des Verfassers sonst ausschließlich heiligen Stätten, so wird dieses Muster an dieser Stelle unterbrochen; zu wunderbar sind die Lebewesen in diesem Teil der Welt.
Und dort gibt es seltsames Großvieh mit langem Rücken und kurzen Beinen, geschaffen mit großen Hörnern. Sie sind alle einheitlich muschelfarbig. Die Sümpfe dort sind tief, und wenn in der Sommerzeit die Sonnenglut vom Himmel herab die Erde verbrennt, erheben sich diese Tiere, gehen in den Sumpf und tauchen ihren ganzen Körper bis auf den Kopf hinein.
Schließlich gelangt die Pilgergruppe über Konstantinopel wieder nach Sizilien und zu den Äolischen Inseln.
Und von dort segelten sie zur Insel Vulcano, wo die Hölle des Theoderich liegt. Und als sie dort hinkamen, verließen sie das Schiff, um zu sehen, wie der Krater aussieht. Willibald war sofort neugierig und wollte sehen, wie der Krater innen beschaffen ist, und er wollte auf den Gipfel des Berges steigen, unterhalb dessen der Krater lag, und konnte es nicht, weil Asche, die aus der dunklen Tiefe bis zum Rand aufstieg, dort lag. Und wie Schnee, wenn es weiße Schneeflocken in Mengen vom Himmel schneit, die Erde mit gewaltigen Schneehaufen erfüllt, so lag die Asche auf dem Berggipfel, dass sie Willibald am Aufstieg hinderte. Trotzdem sah er aus dem Abgrund die unheilvolle, schreckliche Flamme hervorbrechen und beobachtete, wie unter gewaltigem Grollen wie von Donner die Flamme und der Dampf schrecklich in die Höhe aufstiegen. Er sah jenen Bimsstein, den die Schreiber gewöhnlich verwenden, gemeinsam mit der Flamme aus dem Höllenschlund aufsteigen und sich ins Meer ergießen und dann vom Meer wieder ans Festland gespült werden, und die Menschen heben ihn auf und bringen ihn weg.
Nach diesem beeindruckenden Naturschauspiel führt die Pilgerreise nach Monte Cassino, die Klostergründung des heiligen Benedikt, von dort schließlich nach Rom. Hier aber, bei Papst Gregor werden die Früchte der jahrelangen Wanderschaft in neue Bahnen gelenkt. Es gilt die gesammelten Erfahrungen für viele nutzbar zu machen, das Wissen weiterzugeben, selbst zur Quelle für andere zu werden. So wird aus dem Pilger der Missionar. Der Papst schickt ihn zur Unterstützung des Missionars Bonifaz ins Frankenreich.
Und dann kam er zum Herzog Odilo und dort war er eine Woche und von dort gelangte er zu Suidger und dort war er mit jenem eine Woche. Und von dort reisten Suidger und Willibald nach Linthard zum heiligen Bonifaz, und der heilige Bonifaz schickte sie nach Eichstätt, damit er sehe, wie es ihm gefiele. Suidger übergab jene Region Eichstätt zur Erlösung seiner Seele dem heiligen Bonifaz; und der heilige Bonifaz übergab jene Region, die bislang vollkommen öd war, so dass dort nichts war außer jener Kirche der heiligen Maria, die noch immer dort steht, kleiner als jene zweite Kirche, die Willibald später dort errichtet hatte, dem Bischof Willibald ... Als jener Willibald zum Bischof gewählt wurde, war er 41 Jahre alt, und es war damals Herbst. Ungefähr um den Zeitpunkt drei Wochen vor dem Namenstag des heiligen Martin ist er in dem Ort, der Sülzenbrücken genannt wird, zum Bischof geweiht worden. Und in jenem Ort, der Eichstätt genannt wird, begann er ein Kloster zu errichten ... und mit wenigen Arbeitern brachte er das Feld der göttlichen Saat von der Aussaat des göttlichen Wortes bis zu einer reichen Ernte.
Der Autor dieser Biographie bleibt unbekannt, er hat seine Persönlichkeit, wie es einem Ghostwriter gebührt, zurückgenommen, stellt sich ganz in den Dienst der Sache, wahrt sein Inkognito. Und doch liegt seine Identität chiffriert und gleichzeitig selbstbewusst im Text verborgen: In der ältesten Handschrift finden sich zwischen den beiden Viten vier scheinbar sinnlose Textzeilen. Ihnen vertraut der Autor wie einer Flaschenpost durch die fließende Zeit hinweg das Geheimnis seiner Identität an. Es dauert über 1.200 Jahre bevor es gelingt, dieses Rätsel zu entschlüsseln, dann aber ist die Sensation perfekt:
Ego una Saxonica nomine Hugeburc ordinando hec scribebam.
Ich, eine Angelsächsin namens Hugeburc, schrieb dies ordnend nieder.
Eine Frau tritt als Autorin endgültig aus dem Dunkel der Geschichte! Unter den ohnehin Wenigen, die zu dieser Zeit überhaupt lesen und schreiben konnten, sind nur sehr wenige Frauen. Zwischen 730 und 740 in Wessex geboren und in einem südenglischen Kloster ausgebildet kam Hugeburc als Verwandte Willibalds und Wunibalds in deren Gefolge als Nonne nach Heidenheim. Als ihre Vertraute überliefert diese sicher außergewöhnliche Frau der Nachwelt die Lebensbeschreibungen zweier ebenfalls außergewöhnlichen Männer.
© by Elisabeth Schinagl 2019
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