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WahnTraumLand

Heldengedenken

Für den Spätnachmittag war wieder ein Heldengottesdienst angesetzt. Willi war davon wenig begeistert, denn das bedeutete für den heutigen Tag eine vorzeitige Beendigung ihrer Spiele. Ausgerechnet heute! Da war es ganz besonders ärgerlich. Gestern erst hatten er und seine Freunde einen wahren Schatz gefunden, von dem sie zunächst überhaupt nicht gewusst hatten, was sie damit anfangen sollten. Doch Josef hatte vor dem Einschlafen noch eine Idee gehabt, die er ihnen dann heute nach Schulschluss eröffnet hatte. Recht weit waren sie in der Umsetzung allerdings noch nicht gekommen und jetzt mussten sie ihr Vorhaben erst einmal unverrichteter Dinge abbrechen.

Den ersten Heldengottesdienst hatte er noch ganz interessant gefunden, das war etwas Neues für ihn gewesen. Aus Berlin hatte er so etwas nicht gekannt. Doch mittlerweile war der Reiz des Unbekannten verflogen und der zusätzliche Kirchgang nur mehr eine unangenehme Pflicht. Widerstrebend trennte Willi sich von seinen Kameraden. In etwa einer Stunde würden sie sich alle in der Martinskirche wieder sehen. Dann allerdings frisch gewaschen und in ihrem Sonntagsstaat, was die ganze Sache für Willi nicht angenehmer machte. Seine Sonntagshose war ihm inzwischen nicht nur deutlich zu kurz, sondern vor allem am Hintern und am Bund auch unangenehm eng. Sie zwickte beim Sitzen und die Nähte schnürten ihn ein. Eigentlich hätte er schon längst eine neue gebraucht. Aber daran war in diesen Zeiten überhaupt nicht zu denken. Er wäre auch mit Rudis Hose zufrieden gewesen. Seinem älteren Bruder ging es auch nicht besser. Auch er war mittlerweile aus seinen Hosen herausgewachsen. Wenn man wenigstens für ihn eine neue bekäme, wäre eine ganze Reihe von Problemen gelöst, ging es Willi durch den Kopf. Rudi bekäme eine neue Hose, er, Willi, dann Rudis alte und der kleine Georg könnte Willis Hosen auftragen. Sie wären ihm vielleicht noch ein wenig groß, aber er würde schon noch hinein wachsen. Lieber zu groß als zu klein, so viel stand fest. Doch diese Überlegungen waren im Moment alle noch Zukunftsmusik. Noch musste er sich gedulden und sich mit der viel zu engen, zu kurzen Hose abquälen. Wenn der Endsieg erst einmal errungen wäre, würden sich bestimmt auch diese Probleme alle auf einen Schlag lösen. Ärgerlich war nur, dass man nicht genau wusste, wann das war. Frau Leimer, seine Lehrerin, beteuerte, es könne nicht mehr allzu lange dauern. Ein genaues Datum für den ersehnten Freudentag konnte sie allerdings nicht angeben. Das konnte offenbar nicht einmal der Führer selbst. In seiner Ansprache zum Neuen Jahr hatte er verkündet, was vor seinem Volk lag. Willi hatte der Rede zwar gelauscht, aber nur wenig davon verstanden. Auch Mutter und Tante Walli hatten während der Ansprache aufmerksam zugehört. Gesagt hatten sie nichts dazu, Willi war nur ihr seltsamer Gesichtsausdruck aufgefallen. Beide hatten irgendwie traurig und müde auf ihn gewirkt. Doch als er seine Mutter gefragt hatte, hatte sie ihm beteuert, es sei alles in Ordnung. Nach den Ferien hatte ihnen dann Frau Leimer die Rede im Unterricht noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Mit ehrfurchtsvollen Blicken auf das Bild Adolf Hitlers, das hinter ihrem Katheder hing, hatte sie ihren Schülern erklärt, was der Führer gemeint hatte. Das Jahr würde nicht leicht werden. Deutschlands Feinde wollten das Reich zerschlagen und das Volk vernichten. Aber Deutschland würde kämpfen!

"Unser Führer fordert Anstrengung und Verzicht von jedem von uns, also auch von euch, Kinder", hatte sie ausgeführt. Noch hieß es also, sich zu gedulden, auszuharren und freudig seine Pflicht für Volk und Vaterland zu erfüllen. In den Frühjahrsmonaten und im Frühsommer hatte die Pflicht der jüngeren Kinder darin bestanden, Heilkräuter zu sammeln: Huflattich, Schlüsselblumen, Schafgarbe und Johanniskraut. Die wurden dann zu Hause getrocknet und anschließend in der Schule abgeliefert. Die älteren, darunter auch Rudi, hatten zum Kartoffelkäferklauben ausrücken müssen. Frau Leimer hatte ihnen erklärt, dass die Amerikaner und die Engländer die gefräßigen Käfer mit Flugzeugen abwerfen würden, um die Ernte zu vernichten. Aber da hatten sie den Kampfeswillen der Deutschen unterschätzt! Die wussten sich zu wehren. Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht’ auf den Kartoffelkäfer!, hieß die Devise. Trotzdem war Willi froh, bei diesem Kampf noch nicht dabei sein zu müssen. Ihn ekelte vor den gelb-schwarzen Käfern ebenso wie vor den Larven.

Heute bestand Willis Pflicht darin, Jakob Pfaller in unbequemen Hosen beim Heldengottesdienst die letzte Ehre zu erweisen. Der war auf dem Felde der Ehre gefallen. Wo das genau gewesen war, wusste Willi nicht. Das sogenannte Feld der Ehre konnte überall liegen, wo deutsche Soldaten kämpften, in Frankreich ebenso wie in Russland, in Italien, Nordafrika oder Griechenland. Willi hatte den gefallenen Helden nicht gekannt — genauso wenig wie die beiden anderen, die man in diesem Jahr bereits mit solch einem Gottesdienst für ihre Dienste für das Vaterland geehrt hatte. Wie auch? Sie waren ja erst im letzten Jahr mit ihrer Mutter von Berlin nach Emsing, einem kleinen Dorf in Bayern, übersiedelt. Da war Jakob Pfaller schon an der Front gewesen.

Das ganze Dorf war gekommen und die Kirche war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie üblich hatten der Mesner und der Totengräber vor der Kommunionbank einen Erdhügel in Form eines Soldatengrabs aufgeschüttet, das mit einem Birkenkreuz und einem Stahlhelm geschmückt war. Davor stand eine Photographie des Gefallenen. Sie zeigte den jungen Mann mit stolzer Pose in Uniform. Am Fußende hatte man drei Gewehre zu einer Art Pyramide aufgestellt und das Gebilde schön mit Blumen umrahmt. Das war jetzt, im Juli, natürlich deutlich leichter als bei den vorhergegangenen Beerdigungen. Jakob Pfallers symbolisches Grab war richtig schön, fand Willi. Frau Leimer sang ein Requiem. Sie hatte eine angenehme Stimme. Den Text konnte Willi freilich nicht verstehen, er war lateinisch. In den Kirchenbänken hinter ihnen saßen die jungen, heiratsfähigen Mädchen. In schwarzen Kleidern und mit weißen Blumenkränzchen auf dem Kopf erwiesen sie dem Toten die letzte Ehre. Mit diesem Aufzug stellten sie so etwas wie potenzielle Witwen dar. Schließlich hätte eine von ihnen dermaleinst Pfallers Braut werden können, wenn der Krieg diese Möglichkeit nicht zunichte gemacht hätte.

© by Elisabeth Schinagl 2020

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