Die Frau, um die es hier geht, ist weder in einem Geschichtsbuch noch in irgendeinem Lexikon zu finden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn sie hat sich weder in der Wissenschaft noch in der Literatur, weder politisch noch gesellschaftlich in irgendeiner Weise hervorgetan. Dennoch finde ich ihre Geschichte so bemerkenswert, dass ich sie hier erzählen möchte. Denn für mich ist diese Frau eine Heldin des Alltags. Gestoßen bin ich auf sie mehr oder weniger durch Zufall, quasi en passant bei meinen Recherchen zu meinem neuen Roman über den jüdischstämmigen Münchner Brauereibesitzer und Wohltäter Josef Schülein.
Es ist durchaus nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert – ganz im Gegenteil. Eigentlich könnte man sogar sagen, es ist die Regel. Wo immer ich über einen historisch interessanten Mann recherchiere, stoße ich über kurz oder lang auf eine mindestens ebenso interessante Frau, deren Geschichte und Geschick jedoch im Dunkel der Geschichte verschwunden ist. Ich kann natürlich nicht sagen, wie sich der Weg des späteren Brauereibesitzers J. Schülein, dieses „Königs von Haidhausen“, wie er auch genannt wurde, ohne die Tatkraft seiner Mutter Jeanette entwickelt hätte. Aber ich wage zu behaupten, dass sie zumindest den Grundstein für seine Anfangserfolge gelegt hat.
Jeanettes Lebensweg lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Äußerungen von ihr selbst, etwa Briefe oder Tagebücher sind nicht überliefert. Als Quellen dienen mir lediglich Aussagen ihrer Enkelin Lili Bing, Einträge in die Adressbücher der Stadt München und ihr Testament. Vieles muss also Spekulation bleiben. Geboren wird Jeanette, genannt Nette, 1825 als Tochter des Weinhändlers David Jakob Gunzenhäuser und seiner Ehefrau Amalie im mittelfränkischen Feuchtwangen. Sie heiratet Joel Schülein, der sich später in Julius umbenennt und in der mittelfränkischen Landgemeinde Thalmässing einen Tuchladen betreibt. Das Paar hat fünf Kinder. Als ab 1861 der sogenannte Matrikelparagraph aufgehoben wird, der bis dahin für jeden Ort eine Höchstzahl jüdischer Familien festgelegte und damit das Recht von Juden auf Freizügigkeit, berufliches Fortkommen und auf Familiengründung erheblich einschränkte, will offenkundig auch die Familie Schülein diese neue Möglichkeit für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg nutzen. Joel Schülein will in der aufstrebenden Stadt München, wo er regelmäßig seine Waren für den Verkauf besorgte, ins Bankgeschäft einsteigen und gründet dazu eine Firma J. Schülein & Söhne. Der jüngste Sohn, Julius, ist da noch nicht geboren.
Vom Land in die Stadt
Es kommt alles anders. 1867 erkrankt Joel während einer Geschäftsreise nach München an Typhus und stirbt. Er ist gerade einmal 45 und Nette schwanger mit ihrem fünften Kind. Ich habe mir oft die Frage gestellt, wie ich an Nettes Stelle reagiert hätte. Was hätte ich getan als Witwe mit fünf Kindern? Die Antwort lege ich in meinem Roman einer wohlmeinenden Nachbarin in den Mund. Keine Frage, ich hätte mich an Nettes Stelle in das scheinbar Unvermeidliche gefügt, meine Pläne für eine Übersiedelung nach München aufgegeben und stattdessen den kleinen Laden in der Provinz weitergeführt. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, wäre mein Motto gewesen.
Nicht so Nette. Sie will ihren Söhnen eine bessere Ausbildung ermöglichen. Deshalb verkauft sie den Laden und zieht wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes nach München, zunächst in die Schillerstraße 13. Ins Adressbuch der Stadt lässt sie sich als Privatiere eintragen. Aber Nette zieht sich keineswegs ins Privatleben zurück.
Eine erfolgreiche Unternehmerin
Tatsächlich ist sie in den nächsten Jahrzehnten die treibende Kraft hinter dem Bankhaus J. Schülein & Söhne. Dabei darf man sich unter einer Bank zu dieser Zeit sicher nicht die Institution vorstellen, wie wir sie heute kennen. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren kleine Geldhäuser von Privatbankiers, meist in Form eines Familienunternehmens, die vorherrschende Organisationsform im Bankenbereich. München boomt in noch nie dagewesenem Maße, überall wird gebaut und investiert, täglich drängen neue Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt. Der Geldbedarf wächst und ohne die Privatbankiers wäre er überhaupt nicht zu bedienen. Das Bankenwesen ist dabei noch längst nicht so reglementiert, wie wir das heute kennen. Kontrollmechanismen gibt es kaum. Das macht es auch Betrügern wie Adele Spitzeder leicht. Diese Frau, offenkundig eine Meisterin der Selbstinszenierung und der PR, gründet etwa zeitgleich mit Nette ihre „Dachauer Bank“. Im Schneeballsystem streicht sie über Jahre von Privatanlegern zu scheinbar hervorragenden Konditionen Geld ein, bevor der ganze Schwindel auffliegt und München einen handfesten Bankenskandal hat.
Solch ein Gebaren ist Nette in jeder Hinsicht fern. Sie agiert als seriöse Geschäftsfrau, die keinen großen Wirbel um ihre Person macht. Noch Jahrzehnte später und nachdem sie ein durchaus ordentliches Vermögen erwirtschaftet hat, bezeichnet sie sich in ihrem Testament lediglich als Privatierswitwe. So scheinbar selbstverständlich sie die Rolle als Ernährerin für die Familie annimmt und so erfolgreich sie sich auch in der von Männern dominierten Bankenwelt behauptet – sie scheint die traditionelle Frauenrolle nicht anzuzweifeln. Dabei agierte sie mit ihrer Privatbank offenkundig erfolgreich. Bereits 1875, also gerade einmal acht Jahre nach ihrer Übersiedelung nach München, kann sie ihrer Tochter Amalie, genannt Mali, bei deren Verehelichung mit Joseph Aischberg, einem Nürnberger Hopfenhändler, die stattliche Summe von 50.000 Mark als Mitgift geben. Kurze Zeit später erhalten auch die drei älteren Söhne jeweils eine erkleckliche Summe – wohl um ihrerseits ein Unternehmen zu gründen. Julius, der jüngste, ist zu dieser Zeit noch nicht volljährig.
Rückzug ins Privatleben
1885, da ist Nette sechzig, zieht sie sich offenkundig aus dem Geschäft ins Privatleben zurück. Sie überlässt in einem Leibrentenvertrag ihren drei älteren Söhnen noch einmal gut 25.000 Mark aus ihrem Privatvermögen. Die Brüder verpflichten sich dafür, Nette eine jährliche Summe von 3.000 Mark als Rente zu bezahlen. Auch Julius erhält einen Betrag, der in etwa dem seiner Brüder entspricht. Seine Mutter verfügt, dass das Geld bis zu seinem 25. Lebensjahr zu einem festen Zinssatz bei der Firma J. Schülein & Söhne angelegt bleibt. Im selben Jahr zieht Nette in die unmittelbare Nachbarschaft ihres Sohnes Josef. Dessen Frau Ida hat da gerade das fünfte Kind innerhalb von fünf Jahren bekommen und ich kann mir gut vorstellen, dass sich Nette zu diesem Umzug entschlossen hat, um ihrer Schwiegertochter bei der großen Kinderschar unter die Arme zu greifen. Ihre Enkelin Lilli Bing beschreibt ihre Oma mütterlicherseits als strenggläubige Jüdin, die strikt nach dem religiösen Gesetz lebte. Wenn sie nach Nürnberg zu Besuch kam, musste der Haushalt ihrer Tochter Mali für die koschere Küche völlig umgekrempelt werden. Jeden Freitag, am Beginn der Sabbatfeier, bereitete Nette ein Abendessen, zu dem alle Bekannten eingeladen waren.
Nette stirbt im Januar 1900 mit 75 Jahren. Bei allem Erfolg war ihr Leben sicher nicht frei von Schicksalsschlägen: Neben dem frühen Tod ihres Mannes musste sie auch den Freitod ihres ältesten, depressiven Sohnes Jakob verkraften. Auch drei ihrer Enkel sterben früh. Ihr Mut aber, die enge Welt der kleinen fränkischen Landgemeinde zu verlassen und ihre Entschlossenheit, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, hat sich ausgezahlt. Alle Söhne, allen voran Josef Schülein, werden wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmer, ihr Enkel, Julius Wolfgang Schülein, ein bekannter Maler, ein Urenkel, Werner J. Cahnmann, ein bedeutender Soziologe.
Für mich ist Jeanette Schülein eine außergewöhnlich couragierte Frau. Aus diesem Grund habe ich ihr auch in meinem Roman Der Bierkönig von München, ein literarisches Denkmal gesetzt.
© by Elisabeth Schinagl 2021
Alle Rechte vorbehalten
Dieser Artikel entstand im Rahmen der Blogparade "Frauen und Erinnerungskultur" #femaleheritage.